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20.11.2023

Interview: Explosivstoffe und Störfallvorsorge

In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt BAFU, den Umwelt- und Störfallfachstellen von Bund und Kantonen, dem VBS und den betroffenen Betrieben haben wir als externe Berater das Handbuch zur Störfallvorsorge für zivile Betriebe mit Explosivstoffen erarbeitet. Der Klima- und Umweltphysiker Renato Spahni war zusammen mit seinem Kollegen Peter Gerber massgeblich an der Erarbeitung beteiligt. Renato ist seit sieben Jahren als Fachverantwortlicher für Umweltrisiken bei Emch+Berger tätig. Im Interview erzählt er mehr über dieses explosive Thema.  

Was genau ist unter Explosivstoffen zu verstehen? 
Technisch gesehen sind Explosivstoffe Sprengstoffe, Treibstoffe, Zündstoffe und Gegenstände, die diese Stoffe enthalten sowie Feuerwerkskörper. Rein physikalisch betrachtet sind Explosivstoffe feste und flüssige Stoffe oder Stoffgemische, die bei ausreichender energetischer Aktivierung eine bestimmte starke chemische Reaktion unter Entwicklung von Wärmeenergie und Gasen durchlaufen. Die Detonation von Explosivstoffen kann in kürzester Zeit grosse Zerstörungen anrichten und ist lebensgefährlich.

Wo kommen Explosivstoffe vor? 
Zum Beispiel beim Sprengen von Felsen, etwa im Tunnelbau, beim Abbau von Mineralien und Gesteinen oder natürlich bei der Produktion und dem Verkauf von Feuerwerkskörpern und Munition.

Warum wurde diese Richtlinie erstellt?
Bisher gab es für zivile Betriebe mit Explosivstoffen keine solche Richtlinie, sondern nur das Sprengstoffgesetz und die Sprengstoffverordnung sowie die Störfallverordnung. Die Richtlinie erläutert die Vorgehensweise bei der Ermittlung des Geltungsbereichs nach Störfallverordnung und bei der Ausmasseinschätzung für die Erstellung eines Kurzberichts. Sie ermöglicht zivilen Betrieben eine konservative Risikoabschätzung und zeigt mögliche Sicherheitsmassnahmen zur Verhinderung von Störfällen auf.

Gibt es Beispiele von Störfallen mit Explosivstoffen in zivilen Betrieben? 
Im April 1969 ereignete sich im aargauischen Freiamt einer der schwersten Sprengstoffunfälle der Schweizer Geschichte, bei dem die Sprengstoff-Fabrik «Pulveri» dem Erdboden gleichgemacht wurde und 18 Personen ums Leben kamen. Die Explosion einer Feuerwerksfabrik in der niederländischen Stadt Enschede im Mai 2000 forderte 23 Todesopfer, 947 Verletzte und verwüstete den Stadtteil Roombeek.

Wie gross ist das Risiko eines solchen Unfalls heute in der Schweiz?
In der Schweiz ist das Risiko relativ klein, weil es strenge Vorschriften für die Lagerung und auch für den Brandschutz gibt (VKF-Richtlinien). Eine der wichtigsten Vorschriften ist das Zusammenlagerungsverbot, wie die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 zeigt: Bei Schweissarbeiten kam es zu einem Brand in einem Lagerraum mit Feuerwerkskörpern. Durch die Explosion dieser Feuerwerkskörper wurden die daneben gelagerten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat zur Explosion gebracht. Mindestens 207 Menschen starben, mehr als 6500 wurden verletzt. Grosse Teile des Hafens wurden zerstört und in der Stadt entstanden erhebliche Schäden.

In der Schweiz ist ein solcher Fall weniger wahrscheinlich. Nach der Explosion eines Lagers mit nicht spezifiziertem Ammoniumnitrat in Toulouse (Frankreich) im Jahr 2001 wurde 2011 die Richtlinie des BAFU zur Störfallvorsorge bei Lagern für ammoniumnitrathaltige Düngemittel erarbeitet.

Welchen Beitrag leisten wir als Unternehmen in diesem Bereich? 
Wir konnten unser Fachwissen bei der Erarbeitung der Richtlinie einbringen und so dazu beitragen, dass Störfälle in zivilen Betrieben bestmöglich vermieden werden. Wir erstellen auch Risikoanalysen im Rahmen der Störfallverordnung. Für die Richtlinie wurden die heute verfügbaren Modelle zur Berechnung von Explosionsereignissen verwendet und vereinfachte Wirkdistanzen für Wärmestrahlung, Druckwelle und Trümmerflug erarbeitet, die von den Betreibern von Explosivstofflagern und Produktionsanlagen für die Erstellung eines Kurzberichts verwendet werden können. Falls schwere Schäden (mehr als 10 Tote) nicht ausgeschlossen werden können, kann eine detaillierte Risikoermittlung durchgeführt werden. Aus der Risikobeurteilung ergeben sich bei einer möglichen Gefährdung allenfalls Massnahmen wie z.B. der Bau von Brandschutzwänden.

Welche Betriebe fallen in den Geltungsbereich der Störfallverordnung ziviler Betriebe mit Explosivstoffen? Für wen ist eine Risikoermittlung erforderlich?
Die Verordnung gilt für alle Betriebe, die mit Explosivstoffen umgehen. Die Vollzugsbehörde kann Betriebe, Verkehrswege oder Rohrleitungsanlagen im Einzelfall der Störfallverordnung unterstellen, wenn von ihnen aufgrund ihres Gefahrenpotenzials schwere Schäden für die Bevölkerung oder die Umwelt ausgehen können.

Der Geltungsbereich der Störfallverordnung richtet sich in den meisten Fällen nach der Mengenschwelle der einzelnen gefährlichen Stoffe, die in einem Betrieb gelagert, befördert, hergestellt oder anderweitig verarbeitet werden.

Der beauftragte Betrieb hat das Risiko im Ist-Zustand unter Beachtung der Normen und des Standes der Sicherheitstechnik zu beurteilen und in einem Kurzbericht darzulegen, ob schwere Schädigungen für die Bevölkerung oder die Umwelt infolge von Störfällen nicht zu erwarten sind. Kann dies nicht ausgeschlossen werden, ist eine detaillierte Risikoermittlung zu erstellen oder zu beauftragen. Zeigt das Risiko tatsächlich Störfallszenarien mit schwerer Schädigung in grosser Häufigkeit an, sind zusätzliche bauliche oder organisatorische Sicherheitsmassnahmen zu prüfen und je nach wirtschaftlicher Tragbarkeit umzusetzen.

Welche Folgen hätte eine Explosion für die Bevölkerung? 
Die Folgen einer Explosion sind vielfältig und hängen stark von der lokalen Situation ab. Sie reichen von Verbrennungen durch den Feuerball über Verletzungen durch einstürzende Gebäude, berstende Fensterscheiben und herumfliegende Trümmer bis hin zu Trommelfellperforation und Lungenrissen durch die Druckwellen der Detonation.

Welche Sicherheitsmassnahmen müssen die Betriebe im Einzelfall ergreifen?
Je nach Art der Risikowirkung ist die Massnahme entsprechend zu wählen. Was immer hilft: Abstand vergrössern. Bei festen baulichen Anlagen ist dies nicht möglich, daher gibt es drei Klassen von Massnahmen:

  • Technische Sicherheitsmassnahmen wie Blitzschutzsystem, Löschsysteme, Alarmierungssysteme etc.
  • Sicherheitskonzepte, d.h. organisatorische Sicherheitsmassnahmen wie Lagerungskonzepte, Zutrittsbeschränkungen, Einsatzplanung etc.;
  • Bauliche Sicherheitsmassnahmen wie Schutzwälle oder -wände, Entlastungsöffnungen, Brandabschnitte.

Weitere Informationen zur Störfallvorsorge in zivilen Betrieben mit Explosivstoffen sowie die Vollzugshilfe des Bundesamts für Umwelt BAFU finden Sie unter
https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/stoerfallvorsorge/publikationen-studien/publikationen/stoerfallvorsorge-explosivstoffe.html

Die Richtlinie gibt es natürlich auch auf Französisch:
https://www.bafu.admin.ch/bafu/fr/home/themes/accidents-majeurs/publications-etudes/publications/stoerfallvorsorge-explosivstoffe.html